Rittmarshausen (r). Es ist eine neue „Normalität“ entstanden in unserem Alltag - mit Maske und ausreichend Abstand zueinander. Im März bereits bremste das Corona-Virus das Leben von jetzt auf gleich voll aus. Längst ist nicht wieder alles möglich wie zuvor, aber so einige Freiheiten sind doch zurückgekehrt.
Im Albert-Schweitzer-Kinderdorf haben der Lock-Down samt Schul- und Kita-Schließungen, dem Wegfall von Therapieangeboten und des zeitweilen Nutzungsverbots von Spielplätzen so einiges auf den Kopf gestellt. Die Erziehungsstelle Hirsch blickt nun auf einen rund drei Monate geltenden Ausnahmezustand zurück. Zwei Erwachsene, zwei Jugendhilfekinder, ein Sohn sowie eine Tochter leben zusammen in dem Haushalt in Rittmarshausen. Und in einem, da sind sie sich inzwischen einig: „Was für ein Vorteil, so naturangebunden mitten auf dem Land zu leben!“
Alles anders?!
Den Beginn der Krise und auch den schnell folgenden Lock-Down sind sie bei der Familie Hirsch recht entspannt angegangen. Man nutzte gar flugs die Chance, Dinge anzufangen, für die sonst niemand Zeit gefunden hat. Dennoch bestanden Unsicherheiten in Bezug auf die Krankheit, den Umgang in der Öffentlichkeit und bezüglich alldem, was da noch kommen mochte. Für die Jugendlichen im Alter von 13 bis 18 Jahren, die im Haushalt der Erziehungsstelle Hirsch leben, war das Corona-Virus nur ein weiteres modernes Wort – nicht greifbar. Viel schwieriger machte die Situation, dass das Virus trotzdem Ängste in ihnen hervorrief. Deshalb wurden innerhalb der Familie auch sehr viele intensive Gespräche geführt. Zur Verdeutlichung der Thematik hat Erziehungsstellenleiterin Alexandra Hirsch auch die Kindernachrichten „Logo“ genutzt.
Das Hofleben hilft
„Mein Job ist es, die Jugendlichen unter meiner Obhut zur Selbstständigkeit zu führen und das nachzuhalten. Unser Hof ist dabei schon eine fast therapeutische Hilfe. Unter den Lock-Down-Bedingungen wurde das sogar noch deutlicher“ sagt die 50–jährige gelernte Erzieherin.
Auf dem Hirsch-Hof leben nämlich zahlreiche Tiere. Es sind Haustierrassen, die bereits vom Aussterben bedroht sind oder es waren. Kühe finden sich darunter ebenso wie Hühner und Pferde. Die Jugendlichen sollen lernen, was Verlässlichkeit bedeutet und erfahren dies auch in der Verantwortung gegenüber diesen Tieren. Das Hofleben beinhaltet den gesamten Lernprozess, der absolviert wird wenn man sich auf praktische Weise kümmert. Dazu gehören auch Geburt und Tod, alle Lebensprozesse sind miterlebbar.
Trotz der Corona-Beschränkungen hatten die Hirschs somit praktisch keine Zeit für Langeweile. Erst wenn alle versorgt waren, blieb Zeit, sich auf dem Grundstück und in der Feldmark frei zu bewegen. So hat Nils*, 14 Jahre, beispielsweise viele Fahrradausflüge unternommen und Natalie*, 13, hat sich in der Zwischenzeit das Reiten selber beigebracht. Nur Luisa*, 18, brauchte eine sehr intensive Betreuung in dieser unsicheren Zeit des Lock-Downs.
Alternativen bieten – in Bewegung kommen
Bewegung war für sie alle letztlich das A und O im neu gewonnen Alltag. Und so unternahm die Erziehungsstelle Hirsch auch ganz viele ausgedehnte Spaziergänge im Wald. Sie alle sammelten dort auch Naturmaterialien, um es sich zuhause angekommen damit gemütlich zu machen.
Der Vorteil, durch das Hofleben eine ohnehin geregelte Tagesstruktur zu haben, ließ die Jugendlichen schnell verstehen, dass die Corona-Ferien eben keine Ferien waren. Verantwortung und Verpflichtungen hörten trotz der Alltagseinschränkungen nicht auf. Alexandra Hirsch baute zudem eine weitere Struktur um den Tagesablauf herum auf. So wusste immer jeder, welche festen Aufgaben er jeden Tag im neu gefundenen Rhythmus zu erledigen hatte. Selbstverständlich forderten die Jugendlichen dennoch ihre Beschäftigung ein: Es wurde gebacken, gekocht, gebastelt und gespielt bei den Hirschs. Vormittags stand zudem noch der Lernstoff der Schule auf dem Programm.
Dennoch eine herausfordernde Zeit
Trotz allem ging der Corona-Lock-Down auch an den Jugendlichen und Erwachsenen in der Erziehungsstelle Hirsch nicht spurlos vorüber. So fing Nils plötzlich an, Dinge überall abzuschrauben. Alexandra Hirsch fokussierte das, in dem sie es in eine richtige Bahn lenkte und ihn etwas aufbauen, statt abschrauben ließ. So wurde in den Wochen der Corona-Krise aus einem alten Wagen eine Sitzbank, die als nächstes Projekt noch abgeschliffen werden muss und einen neuen Anstrich erhalten soll. Alexandra Hirsch ist überzeugt: „Die Jugendlichen haben in dieser Zeit weit mehr lebenspraktisches gelernt, als es in der regulären Schulzeit der Fall gewesen wäre.“ Wenn die Jugendlichen beispielsweise für alle gekocht haben, dann mussten sie sich mit Zeitmanagement auseinandersetzen. Sie mussten dafür sorgen, dass alle nötigen Zutaten vorhanden waren, dass die Vorbereitungen rechtzeitig starteten und auch, dass der Tisch eingedeckt war, bevor das Essen angerichtet werden konnte. Sich eine neue Form der Selbstständigkeit angeeignet zu haben, empfindet die Erziehungsstellenleiterin als Highlight der vergangenen Zeit. Als Nils einmal ein Loch in seiner Jacke hatte, flickte er es kurzerhand selbst und Luisa hatte plötzlich keine Lust mehr auf ihr altes Zimmer. Spontan ging sie in den Keller und fand dort eine passende Wandfarbe. Sie klebte alles in ihrem Reich selber ab und fing an, ihre vier Wände eigenhändig zu streichen. Wenn das keine positiven Nebenwirkungen der Corona-Krise sind, was dann?
Die Sozialkontakte über die Erziehungsstelle hinaus allerdings, die fehlten allen immens und es war nicht immer leicht, mit dieser Situation umzugehen. Statt der persönlichen Treffen initiierte Luisa so kurzerhand regelmäßige Telefontreffen mit ihrer Freundin. Selbst Alexandra Hirsch als gestandene Frau mit viel beruflicher- sowie auch lebenspraktischer Erfahrung, gesteht ein: „So ganz ohne soziale Kontakte nach außen, das ist echt hart! WhatsApp und Videoanrufe sind jetzt noch viel wichtigere digitale Werkzeuge für mich geworden. Wie gut, dass es das gibt.“
Aber letztendlich überwiegt für sie die positive Erfahrung. Alexandra Hirsch konnte beobachten, dass die Jugendlichen in den vergangenen drei Monaten auch wieder ein Stück mehr Kind sein konnten und die Zeit fanden, ganz in Ruhe zu sich selbst zu finden. Ohne Schule und das Treffen vieler Freunde, ist man eben gezwungen, sich intensiv mit sich selbst auseinanderzusetzen und kann die Rolle, die man bisher wie selbstverständlich in seinem weiten Umfeld eingenommen hat, noch einmal neu überdenken. Eine Antwort auf die Frage, was eigentlich wirklich wichtig ist im Leben, haben die Bewohner des Hirschs-Hof in der Tat finden können.
Foto: Albert-Schweitzer-Familienwerk e.V.